• Rot sind die Rosen

  • Apr 6 2020
  • Length: 10 mins
  • Podcast

  • Summary

  • Zur Musik kann ich recht gut entspannen“, sagt sie. „Und wenn wir singen, kann ich vielleicht gleich mal ein bisschen was essen ohne diese ‚Dinger‘ da“ – sie zeigt auf ihr Sauerstoffgerät und den Medikamenten-Perfusor und lacht. Essen. Entspannen. Frei atmen. Lebensqualität. In der folgenden Woche hat sich ihr Allgemeinzustand deutlich verschlechtert. Keine Nahrungsaufnahme mehr. Ansatzweise veränderte Atmung. Unruhe im Innen und Außen. Ihr bevorstehender Tod ist fühlbar. Zwei Freundinnen sind zu Besuch. Auch sie wirken unruhig, schauen sorgenvoll auf das ‚Ding‘, den Medikamenten-Perfusor. Ich stelle mich vor, lasse mir erzählen, was die Freundinnen verbindet. „Karneval in Kölle“, rufen beide begeistert wie aus einem Munde. Lebensqualität. Einmal im Jahr frei atmen. Was für die Freundinnen das schönste Kostüm gewesen sei, dass ihre sterbende Freundin getragen habe, will ich wissen. Das Jahr, in dem sie als Piratenbraut kostümiert gewesen sei. Auf der Mädchensitzung an Wieverfastelovend. Wie sie es geschafft habe, für alle noch Karten für diese ausverkaufte Prunksitzung zu ergattern. Erinnerungen. Lebensqualität. Entspannung. Sie in ihrem Bett stellt ihre unruhigen Bewegungen ein, atmet tief und gleichmäßig. Um ihren Mund ein Lächeln. Lebensqualität. Ob es Musik gäbe, die sie miteinander verbinde, frage ich. Einen Lieblingskarnevalssong? „Rut sin die Ruse“, rufen beide wie aus einem Munde. Lebensqualität. Und dann singt eine der beiden Freundinnen am Bett. Intuitiv und echt. Sie in ihrem Bett atmet tief und gleichmäßig. Entspannung. Lebensqualität. Die andere Freundin schaut erschrocken und sorgenvoll auf das ‚Ding‘, den Medikamenten-Perfusor. Das sei doch alles gar nicht erwiesen, ob sie überhaupt noch was höre, poltert sie los, den ganzen Quatsch mit der Musik da. Sogar in der neuen „Apotheken - Umschau“ habe es gestanden, dass es gar nicht erwiesen sei, ob sie noch was höre und verstehe, und ob sie dadurch entspannter sei und weniger Schmerzen habe. „So etwas“ singen, das mache man nicht am Sterbebett, und sie hätte ja nun dieses neue‚Ding‘ da, den Medikamenten-Perfusor. Ob es einen besonderen Grund gäbe, warum sie drei so gern miteinander Karneval gefeiert hätten, möchte ich wissen. „Na, weil wir da alle mal so richtig außerhalb unserer Normen und sonstigen Konventionen leben konnten“, rufen beide begeistert wie aus einem Munde. Frei atmen. Lebensqualität. Ob sie sich vorstellen können, Konventionen auch am Sterbebett ihrer Freundin einmal Konventionen sein zu lassen und zu der innig-närrischen Atmosphäre zurückzukehren, die sie verbindet, frage ich. Zaghaftes Nicken. Ob sie die- se Karnevals-Masken und -Fratzen kennen, die gleichzeitig lachen und weinen, frage ich. „Na klar“, rufen beide wie aus einem Munde. Ob sie sich vorstellen können, dass am Sterbebett der Freundin gelacht, laut gesungen, geschimpft und geweint und Fratzen geschnitten werden dürfen, frage ich. Und alles gleichzeitig. Und dass genau das wie im Karneval im übertragenden Sinne „böse Geister“ (die Trauer um die sterbende Freundin) vertreiben helfe, weil man eben nichts vertreibe, sondern weil hier alle vermeintlich närrischen Emotionen gemeinsam feiern. Weil alles sein darf. Zaghaftes Nicken. Auf die ganzen Konventionen zur Wissenschaftlichkeit und ewigen Evidenzbasiererei rund um Musik (-Therapie) kann man in vielen Situationen vielleicht getrost verzichten, sage ich, auf die ehrliche Atmosphäre unter Freundinnen niemals. Und wer weiß? Vielleicht erklingt zur Trauerfeier„Rut sin die Ruse . Aus dem Bett ist ein entspanntes Aufatmen zu hören. Lebensqualität am Lebensende. Musik: Listed thoughts by Ziv Moran @Artlist.io Intimacy by Ben Winwood @Artlist.io
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